Vom Klang der Orte

von Kim Stapelfeld, Theater der Zeit, Juni 2011

Die Regisseurin Anna Malunat verwebt Sprache und Musik, Bewegung und Bühnenbild zu einer Partitur aus immer neuen Variationen

Die Spielfläche ist ein Blatt Papier, auf dem im Laufe des Abends eine Landkarte aus schwarzer Tusche entsteht. Zwei Schauspieler und ein Musiker erzählen vom Verschwinden dieser Landschaft, von der Suche nach Spuren, die jene dort hinterließen, für die dieser Ort einst Heimat war. Es geht um die Geschichte des Kaliningrader Gebietes, das ehemalige Ostpreußen, also auch um die heiklen Topoi „Flucht und Vertreibung“. Die Regisseurin Anna Malunat hat sich in „Halt Dich am Zaun der Himmel ist hoch“ mit einem für das Theater eher ungewöhnlichen Thema auseinandergesetzt.

Die 31-Jährige ist eine Grenzgängerin zwischen zeitgenössischer und klassischer Musik, zwischen Musik- und Sprechtheater, zwischen Staats- und Stadttheatern und freien Produktionshäusern. Während ihres Regiestudiums an der Bayerischen Theaterakademie arbeitete sie mehrfach als Assistentin für Peter Konwitschny. Nach Abschluss ihres Studiums inszenierte sie eine mehrfach ausgezeichnete „La Nozze di Figaro“ (Schauspielhaus Graz, 2005), 2006 „Die Zauberflöte“ (Staatstheater Cottbus) und entwickelte dann fast folgerichtig 2008 den „Klassikerautomat“, ein mobiles Minitheater, das alle Dramen der Weltliteratur im Repertoire hat und in zwei bis zehn Sekunden zur Aufführung bringen kann (Festival 100° Berlin). 2009 war sie Stipendiatin beim internationalen Forum des Berliner Theatertreffens. Seit zwei Jahren inszeniert sie regelmäßig am FFT Düsseldorf, auch „Halt Dich am Zaun“ ist dort entstanden.

Diese Arbeit basiert auf einer Recherchereise, die Anna Malunat mit einer Gruppe deutscher „Heimatvertriebener“ in die heute russische Enklave unternommen hat. Sie hat Interviews geführt, fotografiert, ihre Erfahrungen protokolliert, den Klang der Landschaft auf Band aufgenommen. Aus dem Material entstand eine vielschichtige Collage, die in mehreren erzählsträngen eine Art fiktive Archäologie von Heimat und Heimatverlust betreibt. Drei Perspektiven wechseln sich ab, die der Zeitzeugen, die der Nachgeborenen und die der heute dort lebenden Russen. Fragen nach Schuld, Sühne, Opfer rücken in den Hintergrund, allenfalls präsent als Reste in den Erinnerungen. Vielmehr geht es darum, der Erfahrung nachzuspüren, dass dort, wo einst zu Hause war, nun nichts mehr ist, nur noch der Himmel, die Bäume, die Wiesen. Anna Malunat beschreibt die Inszenierung als Versuch, den Ort selbst zum Autor seiner Geschichte werden zu lassen, seinem Klang Ausdruck zu verleihen, und sei es nur durch das Rauschen seiner Bäume. Und so heißt der Abend im Untertitel auch „Requiem für einen verschwundenen Ort“.

Die Übertragung von Arbeitsweisen des Musiktheaters auf zeitgenössisches Sprachtheater ist ein wichtiger Aspekt in ihrer künstlerischen Arbeit. „Musikalisches Inszenieren“ nennt sie das und meint damit alle Aspekte der Inszenierung: die gesungenen Songs und Lieder, die Einspielungen und erzeugten Soundlandschaften, das Sprechen der Texte, den Rhythmus der Inszenierung, die Bewegungen und Gesten der Darsteller, die Dynamik des sich verändernden Bühnenbildes. Am Ende verweben sich die Elemente zu einer Partitur, die ihr Thema in immer neuen Variationen anklingen lässt. […]

Auch das Bühnenbild spielt in ihren Arbeiten eine wichtige Rolle. Dessen Materialität wird selbst Teil der Inszenierung. Im Verlauf von „Halt Dich am Zaun“ wird die Spielfläche langsam mit Wasser geflutet. Aus der Anfangs präzisen Landkarte entsteht ein chaotisches Aquarell, das vor den Augen des Publikums zu einem Becken schwarzer Tusche verschwimmt. So bleibt am Ende ein ungemein zärtliches Bild vom endgültigen Verschwinden der Erinnerung.

ANNA MALUNAT | Diplom Regisseurin | Mediatorin BM | Coach & Supervisorin DGSv